Die tiefste Weltwirtschafts- und Finanzkrise in der Geschichte des Kapitalismus
Am 15. September 2008 brach mit Lehman Brothers nach Bear Stearns die zweite der fünf weltweit größten Investmentbanken zusammen. Nur um den Preis des Verlustes ihrer Rolle als Investmentbank und mit massivem staatlichen Eingreifen der Bush-Administration in den USA konnten noch in derselben Woche die drei anderen führenden US-Investmentbanken Merrill Lynch, Morgan Stanley und Goldman Sachs vor der Insolvenz gerettet werden. Mit diesem Paukenschlag wurden die billionenschweren, weltweit organisierten lukrativen Finanzströme unterbrochen. Eine internationale Bankenkrise schnürte die Finanzmärkte ein und das internationale Finanzwesen drohte zu kollabieren. Panische Verkäufe von Devisen und Aktien, um an flüssiges Geld zu kommen, brachten die Devisenmärkte ins Trudeln und lösten eine internationale Börsenkrise aus.
Diese in der Geschichte des Kapitalismus an Umfang und Tiefe einmalige Weltfinanzkrise wurde im Oktober 2008 zum unmittelbaren Auslöser einer neuen Weltwirtschaftskrise, deren Dimension ebenfalls ihresgleichen sucht. Sie erfasste relativ gleichzeitig und mit enormer Wucht die wichtigsten Industrieländer. Sie traf ins Herz des internationalen Finanzkapitals und erfasste die meisten der 500 größten internationalen Übermonopole. Diese Übermonopole hatten sich im Zuge der Neuorganisation der internationalen Produktion seit Anfang der 1990er Jahre den Weltmarkt vollständig unterworfen und untereinander aufgeteilt. Die Spitzenmanager, insbesondere der internationalen Monopolbanken, gerieten ins Zentrum des Volkszorns. Gleich in Serie wurden Managerstühle gerückt, allenfalls vergleichbar dem Reigen der Trainerwechsel in der deutschen Fußball-Bundesliga. Durch den abrupten Verschluss der internationalen Exportmärkte gab es für die nationalen Wirtschaften keine Möglichkeiten mehr, mit ihrem überschüssigen Kapital auf andere Märkte auszuweichen, wie es noch in der Weltwirtschaftskrise 2001 bis 2003 der Fall gewesen war. Der Welthandel sackte allein im 4. Quartal 2008 gegenüber dem Höchststand im 2. und 3. Quartal 2008 um 20 Prozent zusammen.
Die Weltindustrieproduktion brach im 4. Quartal 2008 um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr ein – in den Industrieländern sogar um 23 Prozent. Damit ist sie bereits in den ersten drei Monaten der Krise deutlich tiefer eingebrochen als während der Weltwirtschaftskrise 1929 erst nach einem Jahr! Die Weltstahlproduktion sank im Dezember 2008 um 30 Prozent gegenüber dem Höchststand vom Mai 2008. Der weltweite Absatz von Automobilen ging in den 30 OECD*-Ländern im Dezember 2008 um 25 Prozent gegenüber dem Höchststand vom April 2008 zurück.
Mit dem Einbruch von Produktion und Welthandel wurde auch der seit den 1990er Jahren gewaltig aufgeblähte Logistikbereich von der Krise voll erfasst. Der Lkw-Verkauf in Europa ist um 38 Prozent gesunken, der Auftragseingang bei Lkws fast auf Null zusammengeschmolzen! 50 Prozent der Container standen weltweit ungenutzt auf Halde. Um 50 Prozent ist die Handelsschifffahrt zurückgefallen. Nach Schätzungen der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) hat die Weltwirtschafts- und Finanzkrise allein bis Ende 2008 zu einer geschätzten Kapitalvernichtung von 50 Billionen US-Dollar geführt! Dieser Wert liegt tausendmal höher als die gesamte Kapitalvernichtung in den USA bei den Kursstürzen von Oktober bis Ende 1929, die mit etwa 50 Milliarden US-Dollar beziffert wurde.
In Deutschland hat sich der Absturz der Industrieproduktion seit Beginn der Krise aufgrund der 45-prozentigen Exportabhängigkeit der Industrie fortlaufend vertieft.
Im März 2009 sank der Umsatz des verarbeitenden Gewerbes im Vergleich zum Vorjahr um 22,0 Prozent, in der Autoindustrie um 32,3 Prozent, in der Metallerzeugung und -bearbeitung um 31,5 Prozent, im Maschinenbau um 22,4 und in der Chemieindustrie um 25,6 Prozent. Im Februar/März 2009 sanken die industriellen Auftragseingänge um 32,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die deutsche Stahlproduktion ist im April 2009 um 53,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf das Niveau von Ende der 1950er Jahre abgestürzt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank im 1. Quartal 2009 um 6,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das ist der tiefste Einbruch seit dem II. Weltkrieg.
Trotz umfangreicher Krisenprogramme zur Dämpfung der Auswirkungen häufen sich Insolvenzen insbesondere bei kleineren Automobilzulieferern. Aber auch eine wachsende Zahl namhafter Unternehmen in Deutschland wie Hertie, SinnLeffers, Woolworth, TMD Friction, Rosenthal, Qimonda, Edscha, Märklin, Wolf-Gartengeräte, Karmann usw. hat seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Ohne die staatlichen Zuwendungen würden auf dieser Liste auch eine Reihe der größten Banken wie Commerzbank, IKB, KfW oder Hypo Real Estate stehen.
Nach einer Weltbankstudie wird das Wirtschaftswachstum in 94 von 116 Entwicklungsländern rapide zurückfallen, vor allem infolge des dramatischen Rückgangs der Rohstoffnachfrage und des Einbruchs der Rohstoffpreise. Migranten aus den neokolonial abhängigen Ländern sind darüber hinaus die ersten, die insbesondere in den Hauptimmigrationsländern Japan, USA und in Europa ihre Arbeit verlieren. Ihre ausbleibenden Überweisungen reißen Milliardenlöcher in die Haushalte ihrer Heimatländer.
Eine neue Dimension der internationalen Verschuldungskrise kündigt sich an, mit unvorhersehbaren Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Hunderten Millionen von Menschen.
Die Krise des Neokolonialismus, die im Verlauf der vorausgegangenen zeitweiligen Prosperität gedämpft wurde und einen latenten Charakter annehmen konnte, wird wieder offen aufbrechen. Sie wird sich sogar dramatisch vertiefen, weil die imperialistischen Länder die Lasten der Weltwirtschafts- und Finanzkrise rücksichtslos auf den Rücken der von ihnen abhängigen und unterdrückten Länder abwälzen werden.
Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung steigen weltweit seit Beginn der Weltwirtschaftskrise sprunghaft an. In den USA haben 4,3 Millionen Menschen von Oktober 2008 bis April 2009 ihre Arbeit verloren. In China wurden 20 Millionen Wanderarbeiter bis Anfang 2009 in die Arbeitslosigkeit und damit auch ihre Familien ins absolute Elend gestoßen. Selbst die EU-Kommission geht davon aus, dass sich die Arbeitslosigkeit in den baltischen Ländern bis Ende 2010 gegenüber Ende 2008 verdoppeln bis verdreifachen und in Polen und Tschechien um rund 70 Prozent ansteigen wird.
Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise zieht eine deflationäre Entwicklung nach sich, die zu vielfältigen Formen der Lohnsenkung und des Abbaus sozialer Errungenschaften ausgenutzt wird. Elend und Hunger unter der Arbeiterklasse breiten sich mehr und mehr auch in den imperialistischen Metropolen aus. Nach dem Ende der Weltwirtschafts- und Finanzkrise droht in vielen Ländern eine galoppierende Inflation, um die gigantischen Krisenprogramme der Nationalstaaten zu finanzieren.
Inzwischen ist es zu einer offenen internationalen Agrarkrise gekommen. Sie drückt die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise in den Keller und wird weltweit zig Millionen bäuerliche Existenzen in den Ruin treiben.
Vordergründig entschärft die Wirtschaftskrise die globale Umweltkatastrophe, weil mit dem Sinken der Produktion auch der CO2-Ausstoß reduziert wird. Doch dieses Absenken ist viel niedriger als gemeinhin angenommen. Erheblich verschärfend wirkt demgegenüber, dass die internationalen Übermonopole in Zeiten der Krise verstärkt ihre fossile Energie- und Rohstoffbasis zementieren und die Atomkraftwerke erhalten und ausbauen wollen. Die ohnehin nur halbherzig betriebene Forschung in Zukunftstechnologien wird weiter zurückgefahren und die völlig ungenügenden umweltpolitischen Programme und Vorschriften der Regierungen als „zu teuer“ gestoppt. So wird der Übergang in die globale Umweltkatastrophe sogar noch beschleunigt.
Die Krise der bürgerlichen Familienordnung verschärft sich bis hin zur Familienlosigkeit des Proletariats. Entsprechend der fundamentalen Analyse des doppelten Produktionsbegriffs von Marx und Engels signalisiert diese Entwicklung, dass kapitalistische Überproduktionskrisen niemals nur Krisen der Produktion und Reproduktion von Gütern und Waren sind. Sie untergraben auch empfindlich den Prozess der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens. Diese fundamentalen Störungen äußern sich im Einbrechen der Geburtenrate; in der Zerstörung der Fähigkeit der Familien, kleinste Solidargemeinschaft für die Arbeiterklasse zu sein; im rapiden Anstieg von für die Kapitalisten „überschüssigem Menschenmaterial“; in der psychischen und körperlichen Zerrüttung immer größerer Teile der Bevölkerung durch Massenarmut, Unter- und Fehlernährung, psychische Krankheiten, soziale Verwahrlosung durch vorenthaltene Bildung und Gesundheitsfürsorge; in sinkender Lebenserwartung durch Überarbeitung, aber auch durch Seuchen und Epidemien und nicht zuletzt im Vordringen zerstörerischer Ideologien und Praktiken wie des Sexismus oder patriarchaler Denk- und Verhaltensweisen.
Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat den Kapitalismus in eine tiefe gesellschaftliche Krise gestürzt, die weitreichende Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung haben wird.