VI.

VI.

Notwendiger Kampf gegen Sozial­chauvinismus, Opportunismus und Dogmatismus

Die Zuspitzung der Widersprüche im imperialistischen Weltsystem und die Verschärfung der Klassenauseinandersetzungen erweitern das Potenzial für eine revolutionäre Weltkrise. Sie sind zugleich ein Nährboden für das Vordringen des Opportunismus mittels der kleinbürgerlich-opportunistischen Denkweise in der internationalen Arbeiter- und revolutionären Bewegung. Die Widersprüche zwischen der revolutionären und der opportunistischen Richtung treten offener zutage.

Unter der Bedingung sich zuspitzender Widersprüche im imperialistischen Weltsystem kommt es tendenziell zu einer Umwandlung des Opportunismus in den Sozialchauvinismus.

Die deutsche Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel verkauft ihre führende Rolle in der EU als Politik der Friedenserhaltung, des ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interessenausgleichs – als Gegenentwurf zur Politik Trumps, Erdo˘gans oder Putins. Genau das gehört zum System der kleinbürgerlichen Denkweise als Regierungsmethode. Damit bedient sie geschickt die Illusionen kleinbürgerlich-reformistisch und kleinbürgerlich-revisionistisch beeinflusster Kräfte in der Arbeiter- und Massenbewegung, die davon träumen, von »guten« oder »erträglichen« Imperialisten gegen die »bösen« geschützt zu werden.

Auf diese Position sind mehr oder weni­ger alle Berliner Parteien eingeschwenkt, dazu die gesamte bürgerliche Medienlandschaft und die rechte Gewerkschaftsführung. Das Ergebnis: Die kleinbürgerlich-sozialchauvinistische Denkweise in der Arbeiter- und Volksbewegung dringt vor – auf die antiimperialistische Kritik am deutschen oder europäischen Imperialismus wird verzichtet und dem russischen oder chinesischen Imperialismus eine antiimperialistische Position angedichtet.

Die PCMLM (Partido Comunista de Bolivia – Marxistisch-Leninistisch-Maoistisch) erklärte am 26. März 2017 ihren Austritt aus der ICOR83. Sie begründet diesen Schritt unter anderem mit der Haltung der ICOR zum bewaffneten Konflikt in der Ukraine:

»Es ist für uns unfassbar, dass man Russland als Hauptfeind und ›Aggressor‹ der Ukraine ansehen kann. Das bedeutet, den US-Imperialismus ›reinzuwaschen‹ …«84

Die ICOR hat zu keinem Zeitpunkt Russland als »Hauptfeind« bezeichnet. Sie hat auch nicht infrage gestellt, dass die Hauptgefahr für den Weltfrieden von der US-amerikanischen Supermacht ausgeht, und dass USA und NATO einschließlich der Regierung der Ukraine im Ukraine-Konflikt eine ultra­reaktionäre Rolle spielen.

Aber: Kann der Führung der PCMLM wirklich entgangen sein, dass die Politik Putins gekennzeichnet ist durch massive Repression gegen die Arbeiterbewegung, die nationalen Minderheiten, die demokratischen und revolutionären Kräfte in Russland? Ist sie nicht in der Lage, den imperialistischen Charakter Russlands zu erkennen, das von der Wiederherstellung der Macht des russischen Sozialimperialismus oder des Zarenreichs träumt?

Auch aus der heute von Fraktionskämpfen zerrissenen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) verlauten Bekundungen der Vasallentreue gegenüber Russland. So bestreitet die stellvertretende Vorsitzende der DKP, Wera Richter, in ihrer Einleitungsrede zur Tagung des DKP-Vorstands den imperialistischen Charakter Russlands und Chinas:

»Natürlich handelt es sich im Unterschied zu den G7 nicht um ein Treffen, bei dem sich ausschließlich die Führer der führenden Imperialisten treffen. … Wir wissen, dass Russland und die VR China, wie auch einige andere Länder der G20, zu den faktischen Bündnispartnern der Friedensbewegung gehören.«85

Auf einer Konferenz der modernen Revisionisten in Münster im April 2017 erkor die DKP Russland sogar zu einer antiimperialistischen Kraft:

»Russland ist zu einer Politik in Gegnerschaft zur NATO gezwungen und agiert damit objektiv antiimperialistisch.«86

Diese absurde Logik kennzeichnet den Übergang des Revisionismus zum offenen Sozialchauvinismus. Es ist sozialchauvinistisch, sich unter der Flagge revolutionärer Gesinnung bei zwischenimperialistischen Widersprüchen oder gar Kriegen auf die Seite des einen oder anderen Imperialisten zu schlagen. Die Arbeiterklasse, die unterdrückten Massen und die Revolutionäre der Welt müssen gegen ausnahmslos jede Art von Imperialisten kämpfen!

Unter den Organisationen und Parteien der ICOR entwickelt sich zurzeit eine fruchtbare, teils kontroverse Aus­ein­andersetzung über die Herausbildung neuimperia­listischer Länder und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen.

Einige Parteien vermeiden den Begriff »neuimperialistisches Land« ausdrücklich und sprechen von »Regionalmacht«. »Regionalmacht« ist aber lediglich eine oberflächliche Beschreibung des Expansionsbestrebens von Ländern wie Indien, Türkei oder Saudi-Arabien. Sie werden damit nicht wissenschaftlich und vom Klassenstandpunkt aus charakterisiert. Das trifft auch zu auf Begriffe wie »subimperialistische Länder« oder »Schwellenländer«.

Gegen die Charakterisierung Saudi-Arabiens, Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) als neuimperialistische Länder wird eingewendet, dass diese »kaum eine eigene fortgeschrittene Produktionsbasis« hätten. Tatsächlich ist deren Produktionsbasis eingeschränkt und auf Öl und Gas konzentriert. Sie ist jedoch integriert in die internationalisierte Produktionsweise. Diese Länder investieren ihr überakkumuliertes Kapital in Anteile an Monopolen auf der ganzen Welt. 22,7 Prozent der Beschäftigen in Saudi-Arabien arbeiten in der Industrie, 71,2 Prozent im sogenannten Dienstleistungsbereich, der zu einem großen Teil mit Industriearbeitsplätzen gleichzusetzen ist. Saudi-Arabien verfügt mit Aramco über das nach geschätztem Börsenwert weltgrößte Monopol, mit circa 400 Milliarden US-Dollar Umsatz 2013. Es besitzt 20 der 2000 größten Monopole in 2013, die VAE 14 und Katar 8.87 Die sechs bis acht Millionen Arbeiter in Saudi-Arabien kommen aus Pakistan, Bangladesch, den Philippinen. Sie werden unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet und unterdrückt.

Aufgrund der heutigen Stufe der internationalen Arbeitsteilung ist das Vorhandensein einer allseitigen Produktionsbasis kein entscheidendes Beurteilungskriterium mehr für die Qualifizierung eines Landes als »imperialistisch«. Die imperialistischen Länder und ihre internationalen Monopole konzentrieren sich auf die Bereiche, in denen sie Weltmarktführung erringen, Mono­polpreise diktieren und andere Länder – auch imperialistische – in Abhängigkeiten bringen können.

Dem entspricht auch die von Saudi-Arabien, Katar und den VAE verfolgte Strategie des Kapitalexports. Der Staatsfonds Qatar Investment Authority verfügt über geschätzte 335 Milliarden US-Dollar. Mit Milliarden US-Dollar ist er an Aktiengesellschaften und großen Immobilien- und Infrastrukturprojekten weltweit beteiligt, davon allein mit 57 Milliarden US-Dollar an nur zehn Unternehmen wie VW, Glencore oder Royal Dutch Shell88. In Saudi-Arabien werden 450 Milliarden Euro von der Notenbank verwaltet, die dafür weltweit Bankguthaben anlegt und Anleihen und Aktien aufkauft.

Lenin hob hervor, dass für das herrschende imperialistische Finanzkapital ­gerade die Loslösung von der direkten Produktion besonders charakteristisch ist:

»Zum typischen ›Herrscher‹ der Welt wurde nunmehr das Finanzkapital, das besonders beweglich und elastisch, national wie international besonders verflochten ist, das besonders unpersönlich und von der direkten Produktion losgelöst ist, das sich besonders leicht konzentriert und bereits besonders stark konzentriert hat, so daß buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten.«89

Auf die arabischen Scheichtümer trifft zu, was Lenin zum parasitären Wesen des Imperialismus schrieb:

»Immer plastischer tritt als eine Tendenz des Imperialismus die Bildung des ›Rentnerstaates‹, des Wucherstaates hervor, dessen Bourgeoisie in steigendem Maße von Kapitalexport und ›Kuponschneiden‹ lebt.«90

Ein weiterer Einwand gegen den neuimperialistischen Cha­rakter dieser Scheichtümer ist ihre »feudale Herrschaftsstruktur«. Der müsste sich auch gegen Lenin richten, der das zaristische Russland als »beispiellos brutalen, mittelalterlichen, wirtschaftlich rückständigen, militärisch-bürokratischen Imperialismus«91 definierte. Die autokratische Herrschaftsform ist als besondere Form des staatsmonopolistischen Kapitalismus äußerst dienlich.

Die der Wirklichkeit widersprechenden Einschätzungen der neuimperialistischen Länder sind das Ergebnis einer dogmatischen Anwendung des Marxismus-Leninismus. Sie ziehen unausweichlich Fehler in der Strategie und Taktik nach sich und bewirken vermeidbare Rückschläge im sozialen und nationalen Befreiungskampf.