Gabi Fechtner

Gabi Fechtner

Kontroverser Briefwechsel über den Antisemitismusvorwurf gegen Stalin

Briefwechsel zwischen C. und Gabi Fechtner

Von RW-Redaktion

1. Brief von C an Gabi Fechtner vom 14. August 2020

2. Brief von C an Gabi Fechtner vom 03.September 2020

3. Antwortbrief von Gabi Fechtner an C. vom 15.Oktober 2020

Brief von C.an Gabi Fechtner vom 14.8.20

Betr.: Ihr Interview mit der erweiterten Losung: „Gib Antikommunismus, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus keine Chance!“

Guten Tag Frau Fechtner,

beim Lesen Ihres Interviews mit dieser unterstützenswerten Losung stellte sich mir die folgende Frage: War Stalin wirklich ein Gegner des Antisemitismus? Erlauben Sie mir im Folgenden einige Tatsachen anzuführen, die meines Erachtens zu einer unvoreingenommen Urteilsbildung beitragen könnten:

1) Am 20.11.1948 verbietet die sowjetische Führung das „Jüdische Antifaschistische Komitee“, dem u.a. der Cineast Sergej Eisenstein, der Geiger David Oistrach und der Schriftsteller Ilia Ehrenburg angehörten. Das Politbüro der KPdSU fasste damals den Beschluss, „das Jüdische antifaschistische Komitee unverzüglich zu liquidieren, denn, wie die Fakten zeigen, ist dieses Komitee ein Zentrum antisowjetischer Propaganda und liefert den ausländischen Geheimdiensten regelmäßig antisowjetische Information.“ (NZZ 03.08.2002) „430 Schriftsteller, Schauspieler, Künstler, Musiker wurden verhaftet, - die Blüte der jüdischen Intelligenz...Nur wenige überlebten Gefängnis und Lager.“ (NZZ. s.o.) Auch sein Vorsitzender, Solomon Michoels, kam „plötzlich ums Leben.“

Die russische Autorin Irina Scherbakowa, ebenfalls jüdischer Abstammung und führendes Mitglied von MEMORIAL, schreibt: „Kurz darauf wurden auch die Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet. Mein Großvater (als Mitarbeiter Georgi Dimitrows zur Außenpolitischen Abteilung des ZKs gehörig) kannte viele von ihnen sehr gut. Sie wurden grausam gefoltert und 1952 fast alle hingerichtet. Gleichzeitig begann eine Kampagne, von der auch assimilierte und atheistische Juden betroffen waren, also solche wie meine Familie. Das alles erfolgte unter der Losung des „Kampfes gegen den Kosmopolitismus“, und mit den „heimatlosen Kosmopoliten“ waren Juden gemeint. Der Kosmopolitismus, so hieß es, sei Ausdruck der imperialistischen Bourgeoisie, er bedrohe die nationale Identität und stehe den proletarischen-sozialistischen Bestrebungen entgegen. Dieser verwerflichen Ideologie würden vor allem Juden anhängen.“ Im März 1952 wurden schließlich 15 leitende Personen des Komitees vor Gericht gestellt. 13 Todesurteile wurden am 12.8. vollstreckt. Darunter waren die weltweit bekannten Literaten und Dichter Perez Markisch, Itzik Fejfer und David Bergelson. Das Politbüro hatte die Begnadigungsgesuche der Verurteilten zuvor abgelehnt (NZZ 03.08.2002).

2) Im gleichen Jahr 1948 untersagt die sowjetische Führung die Herausgabe des „Schwarzbuches“, eine Dokumentation über die NS-Verbrechen an den Juden während des II. Weltkriegs auf sowjetischem Boden, verfasst von Ilja Ehrenburg und Vassili Grossmann, beide jüdischer Abstammung. Der gesamte Drucksatz wurde vernichtet. Eine spätere Veröffentlichung im Ausland war aber dennoch möglich, Dank der privaten Aufzeichnungen des Mitautors Grossmann, dessen jüdische Mutter auch von den SS-Einsatzgruppen ermordet wurde.

3) Grossmann, leitender Redakteur der Zeitung Krasnaja Swesda (=Roter Stern) der Roten Armee, schrieb als ehemaliger Stalingradkämpfer den Roman „Stalingrad“. Dieser Roman wurde ebenfalls beschlagnahmt, da die Hauptfigur, der Atomphysiker Strum, jüdischer Herkunft war.

4) All diese Verbote geschahen im Zusammenhang mit der am 28.01.1949 gestarteten „Kampagne gegen den Kosmopolitismus“. Die besondere Rolle der Juden bei den Verfolgungen der Nazis, durfte nicht mehr herausgestellt werden. Ausschließlich das russische Volk, das die Hauptlast des Kampfes gegen den Hitler-Faschismus zu tragen hatte, sollte nun thematisiert werden. Für die Zeit ab dem Sommer 1941 bis 1945 ist das sicherlich zutreffend, dennoch kann man doch nicht verschweigen, dass Hitler nicht nur die Slawen als „Untermenschen“ und „Arbeitssklaven“ sah, sondern auch „die Vernichtung der gesamten jüdischen Rasse“ propagierte. Dieser Paradigmenwechsel hin zu einem russisch- nationalistischen Denken kündigte sich übrigens schon 1939 beim Hitler-Stalinpakt an, wo Stalin gegenüber Dimitroff vom Ziel der Wiederherstellung der Grenzen des russischen Zarenreiches (vgl. Dimitroff, Tagebuch, S. 162) sprach, wohingegen Lenin Eroberungen rundweg ablehnte (vgl. Bontsch-Brujewitsch, W.I. Lenin in Petrograd und Moskau 1917-1920. S. 119 und RF-Magazin Nr. 13/2020 S. 33).

5) Die antisemitisch geprägte Repressionswelle wurde ein Jahr später auf viele Volks- demokratien Osteuropas ausgeweitet. 1949 beginnen die Schauprozesse gegen viele jüdische Genossen in Ungarn (Rajk), Bulgarien (Kostoff) und CSSR (Slánský). Prozesse, von denen sich auch Willi Dickhut distanzierte (vgl. Geschichte der MLPD, S. 225). Die überwiegende Mehrheit der dort verfolgten Genossen war ebenfalls jüdischer Herkunft. Allein 11 der 14 Angeklagten des Hauptprozesses in Prag gegen KP-Generalsekretär Slánský waren jüdischer Abstammung. Insgesamt kam es in Prag zu 233 Todesurteilen von denen 178 vollstreckt wurden (vgl. Naturfreundejugend, a.a.O. S. 50) Auch hier ein auffälliger Paradigmenwechsel, denn Lenin betonte noch: „Man wirft uns vor, dass wir Terror anwenden, aber ein Terror, wie ihn die Französische Revolution anwandte, die waffenlose Menschen guillotinierte, wenden wir nicht an und werden wir, wie ich hoffe, nicht anwenden...Als wir Verhaftungen vornahmen, sagten wir: Wir lassen euch frei, wenn ihr unterschreibt, dass ihr keine Sabotage treiben werdet.“ (LW Bd. 26 S.279 /289) Übrigens, in den Prozessen wurde den Angeklagten natürlich nicht offen vorgeworfen Juden zu sein, sondern Spionage und Sabotage betrieben zu haben (vgl. die sehr lesenswerten Prozessprotokolle, die damals in der DDR veröffentlicht wurden).

6) 1949/1950 beginnt auch in der DDR die deutlich antisemitisch ausgerichtete Repressions- welle gegen Genossen jüdischer Herkunft wie Leo Bauer, Bruno Goldhammer, Alexander Abusch, Rudolf Feistmann, Leo Zuckermann u.a. sowie gegen Genossen, die sich diesen antisemitischen Tendenzen mutig entgegenstellten, wie etwa Paul Merker: 

- Bruno Goldhammer, Chefredakteur des Berliner Rundfunks, wurde nach dreieinhalb Jahren U-Haft zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.

- Rudolf Feistmann, Mitglied Redaktionsleitung des Neuen Deutschland, wurde in den Selbstmord getrieben (vgl. sein Abschiedsbrief an Paul Merker). Offiziell starb er an „Fleischvergiftung.“

- Leo Bauer, KPD-Landtagsabgeordneter in Hessen, Herausgeber der KPD-Zeitschrift „Wissen und Tat“ wurde nach Folterungen im Zuchthaus Hohenschönhausen zum Tod verurteilt und in die UdSSR gebracht. Dort zu 25 Jahren begnadigt und in ein Lager nach Sibirien deportiert.

- Paul Merker, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, war nicht jüdischer Herkunft. Er hatte aber vom Staat der DDR Entschädigungen für jüdische Familien gefordert, die in der Nazi-Zeit ihres Vermögens beraubt wurden. Daraufhin wurde er am 2.12.52 parallel zu Slánský, den er gut kannte, verhaftet. In der Begründung des ZK der SED heißt es dazu, er „habe Entschädigung für von den Nazis geraubtes jüdisches Vermögen nur gefordert, um dem US-Finanzkapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen.“ (Dokumente der SED, Bd. 4 S. 199)

Merker wurde 1950 aus der Partei ausgeschlossen und kam in U-Haft ins Stasi-Gefängnis nach Hohenschönhausen. Schließlich wurde er in einem Geheimprozess zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 31.7.1956, nach Stalins Tod, erhielt er in einem Brief von Ulbricht einen „Freispruch“, - ohne weitere Begründung. (Mario Kessler, a.a.O. S. 153)

Soweit mal. Ich habe mich bewusst im Wesentlichen auf Tatsachen gestützt, denn von ihnen gilt es ja auszugehen, gerade auch wenn man sich in der Tradition von Karl Marx sieht. Weitergehende Überlegungen über die Ursachen und die Denkweise bei Stalin oder den politisch Verantwortlichen in Osteuropa bez. der damaligen DDR habe ich nur angedeutet, da ziemlich offensichtlich. Ich denke, dass Antikommunisten häufig auch Antisemiten sind, ist ja doch bei beiden ihr Denken auch Bestandteil der NS-Ideologie. Dass aber der von Ihnen als herausragender Kommunist gesehene Stalin ebenfalls nicht frei von antisemitischem Denken war, ja sogar entsprechend motivierte Verbrechen mit zu verantworten hat, muss doch Kommunisten wie Sie herausfordern, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen. Und Folterungen, Verurteilungen unschuldiger Juden zu Zuchthaus- und Todesstrafen, unzählige Hinrichtungen etc. sind ja doch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Natürlich sollten deswegen seine Verdienste im Kampf gegen den Hitlerfaschismus ab 1941 und beim sozialistischen Aufbau der UdSSR nicht außer Acht gelassen werden. Diese Verbrechen aber zu verschweigen oder gar zu leugnen, gleichzeitig jedoch zu behaupten, gegen jegliche Form des Antisemitismus zu sein, ist jedenfalls für linke, fortschrittliche Menschen wenig überzeugend. Ich wüsste gerne, wie Sie das sehen und würde mich daher über eine Antwort freuen.

Freundliche Grüße,

C

Literaturangaben:

1) Irina Scherbakowa: Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte. München 2001 (Die Großmutter der Autorin war in der Komintern tätig. Ihr Großvater Mitarbeiter Dimitroffs und sie selbst zeigt heute viel Zivilcourage gegen Putins Repressionen gegenüber MEMORIAL)

2) Naturfreundejugend Berlin: Stalin hat uns das Herz gebrochen. Münster 2017 (Besonders das Kapitel zu Paul Merker, S. 61ff)

3) Mario Kessler: Antisemitismus in der SED 1952/53

4) Jeffrey Herf: Antisemitismus in der SED, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven. 1994 Heft 4

Brief von C. an Gabi Fechtner vom 03.09.20

Betr. Interview in „DIE WELT“ vom 25.08.20

Guten Tag Frau Fechtner,

Sie gaben unlängst der Tageszeitung DIE WELT ein sehr lesenswertes Interview, das für mich allerdings zwei wesentliche Fragen unbeantwortet ließ:

I. Sie sagen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, dass „in der Zeit Stalins Verbrechen verübt“ worden seien. Früher las man in den entsprechenden Publikationen Ihrer Partei lediglich von „Fehlern.“ Könnten Sie nun auch konkrete Beispiele nennen? An welche Verbrechen denken Sie? Wer waren die Opfer dieser Verbrechen und wer die Täter? Welches Ausmaß hatten diese Verbrechen? Kamen sie nur vereinzelt vor oder hatten sie System?

Ich denke es ging in der Zeit von 1936-39, wo Nikolai Jeschow Chef des NKWD war, keineswegs nur um vereinzelt vorgekommene Verbrechen, sondern um einen von oben initiierten Terror und Massenmord. Angehörige der Opfer schrieben nämlich damals etwa 120 000 (!) Beschwerdebriefe an die Staatsanwaltschaften (vgl. Staatsarchiv der Russischen Föderation, (GARF), f. R-8131, op. 37, d.112, l.16. in: Chlewnjuk a.a.O. S. 262).

Ein daraufhin am 17.11.1938 publiziertes öffentliche Eingeständnis des ZKs der KPdSU machte schließlich das Ausmaß der Verbrechen deutlich: Es handele sich um eine „vorsätzliche Liquidierung von Hunderttausenden von unschuldigen sowjetischen Bürgern, Militärs, Wissenschaftlern, politischen Aktivisten und Persönlichkeiten, was ein nicht wieder gut zu machender Schaden am internationalen Ansehen des Sowjetstaates bewirkte.“ (Zentralarchiv des FSB (=Sicherheitsdienst), Akten mit Dienstanweisungen, No. 15302 Band 13 Seite 399f), in: Alexei Pavlioukov, a.a.O. S. 557)

II. Sie behaupten zudem, dass Stalins Täterschaft „nicht bewiesen“ sei. Denken Sie, er wusste nichts davon? Dann wäre er zumindest nicht genügend wachsam gewesen. (Man wird unwillkürlich an den Ausspruch erinnert, „wenn das der Führer wüsste…“) Oder war er gar unfähig, richtig zu reagieren?

Ich denke, Stalin war auf jeden Fall Mitwisser. Denn „innerhalb von 20 Monaten (zwischen Januar 1937 und August 1938) erhielt er 25 000 sogenannte spezsoobschtschenija (=Sondermitteilungen). In ihnen wurde über Verhaftungen und die Durchführung verschiedener geheimer Polizeieinsätze berichtet, oder sie enthielten die Bitte, bestimmte repressive Maßnahmen zu genehmigen, gewöhnlich begleitet von kopierten Verhörprotokollen. An einem typischen Tag bekam er von Jeschow 25 solcher Mitteilungen, von denen manche viele Seiten lang waren. Außerdem sind in der Besucherliste von Stalins Büro im Kreml für die Jahre 1937 und 1938 knapp 290 Besuche Jeschows verzeichnet, die sich über insgesamt 850 Stunden erstreckten. Der einzige Mensch, der Stalin öfter besuchte, war Molotow. (Chlewniuk a.a.O. S. 258)

Sie werden nun vielleicht einwenden, dass Stalin doch gegen Jeschow vorgegangen sei, ihn als NKWD-Chef absetzen, ja sogar erschießen ließ.

Dann stellt sich aber die Frage, ob Stalin doch nicht nur Mitwisser, sondern sogar Mittäter war. Für eine Mittäterschaft sprechen meines Erachtens folgende Fakten:

  • Er machte Jeschow zum NKWD-Chef und „übertrug ihm die Verantwortung für die Durchführung der Säuberungen.“ (Chlewniuk a.a.O. S. 229)
  • Er mitunterzeichnete alle entsprechenden Beschlüsse des Politbüros, insbesondere die, die die Bildung der Troikas (d.h. Standgerichte von drei Personen, NKWD-Genosse, Parteigenosse, Staatsanwalt, d.h. ohne Richter und Verteidiger, ohne das Recht, Berufung einzulegen) und die Kontingentierung ( d.h. Vorabfestlegung der Anzahl der Verurteilten und deren Strafmaß, einschließlich Todesstrafe) zum Inhalt hatten. (vgl. Politbürobeschluss vom 28.Juni.1937 und NKWD Befehl Nr. 00447 vom 30 Juli 1937, in: Staatsarchiv der Sozialen und politischen Geschichte Russlands, RGASPI, F.17.I162D21, S. 89)
  • Er unterzeichnete Politbürobeschlüsse, die nicht nur Begnadigungen ablehnten, sondern drängte Jeschow sogar, die Repressionsmaßnahmen zu forcieren. „…Sie sollen nicht prüfen, Sie sollen verhaften.“ (vgl. Brief an Jeschow vom 17.01 1938, Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) S. 527-537 vom 30. April 1938, in: Chlewniuk a.a O. S. 257)
  • Er rechtfertigte die Anwendung der Folter. Das ZK schickte am 10. Januar 1939 an alle regionalen Parteigruppen und an den NKWD folgendes Telegramm: „…Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Praktik der Anwendung von Gewalt zu Ergebnissen führte und die Aufgabe, die Volksfeinde zu demaskieren, beschleunigt hat….Es ist bekannt, dass alle Geheimdienste bürgerlicher Staaten physische Gewalt anwenden gegenüber Vertretern des sozialistischen Proletariats und dabei sogar die barbarischsten Mittel anwenden. Die Frage stellt sich also, warum der sozialistische Geheimdienst menschlicher gegenüber den Agenten der Bourgeoisie und den geschworenen Feinden der Arbeiter und Bauern sein sollte. Das Zentralkomitee der KPdSU (B) ist der Meinung, dass die Methode der physischen Gewalt in Zukunft unbedingt weiter angewendet werden muss gegenüber den tatsächlichen Feinden des Volkes, da es eine berechtigte und adäquate Methode ist.“ (Sluzba bezpasnosti (=Sicherheitsdienst) No. 6, 1993, S. 2, in: Pavlioukov a.a.O. S. 515
  • Er sorgte für die Durchführung der Todesstrafe. So nahm das Politbüro am 28.Juni 1937 folgenden Beschluss auf Vorschlag Stalins an: „Die Anwendung ist unerlässlich bei allen meuternden Aktivisten unter den deportierten Kulaken.“ (No. 0047)

Da Stalin an der Spitze des ZKs und des Politbüros stand, war er nicht nur Mitwisser und Mittäter, sondern sogar Haupttäter. Dass er die Absetzung Jeschows, den er in der Tat erschießen ließ, nicht zu einer großen, öffentlichkeitswirksamen Kritik- und Selbstkritikkampagne, d.h. als kulturrevolutionären Lernprozess nutzte, damit solche Verbrechen sich nicht wiederholen mögen, zeigt nur, dass es ihm mit Jeschows Absetzung lediglich um die Ausschaltung eines Mitwissers und Sündenbocks ging. Auch später hat Stalin die „Jeschowschtschina“, wie die Russen diese Zeit des Terrors von 1936-1939 nennen, nie einer größeren selbstkritischen Aufarbeitung unterzogen., etwa in Form einer korrigierten und erweiterten Neuauflage der „Geschichte der KPdSU(B)“. Im Gegenteil: Der NKWD-Apparat wurde in den folgenden Jahren trotz vieler Entlassungen und Bestrafungen weiter ausgebaut und schon bis 1941 „praktisch verdoppelt.“ (vgl. Alexander-Jakowlew-Archiv: www.idf.ru/documents...in: Schlögel: a.a.O. S. 660.) Die Folge war, dass die Folterungen, Schauprozesse und Todesstrafen sich unter seiner Führung nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzten. Man denke nur an den Terror gegenüber den „Kosmopoliten“ oder an die Folterungen und Todestrafen im Zuge der Schauprozesse gegen Raik (Ungarn), Kostoff (Bulgarien) und Slánský (CSSR) usw.

Zum Schluss stellt sich mir die Frage, wie Sie und Ihre Partei Begeisterung wecken wollen für eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus bez. Imperialismus und seiner menschenfeindlichen Verbrechen, wenn ihrer „sozialistischen Alternative“ eine Ikone bez. ein „Klassiker“ wie Stalin vorsteht. Ein echter Sozialismus sollte doch Freiheits- und Menschenrechte verwirklichen d.h. die Arbeiterklasse befreien und nicht sie mit derartigen NKWD- oder Stasi-Methoden terrorisieren.

Vielleicht antworten Sie mir ja dieses Mal auf meinen Brief oder reagieren zumindest darauf. Falls wieder nicht, wie geschehen bei meinen letzten drei Briefen (zum Potsdamer Abkommen, zu einer evtl. Stalin-Statue in Gelsenkirchen und zum Antisemitismus in der Stalin-Zeit), dann macht eine weitere Korrespondenz wohl wenig Sinn…

Antwort von Gabi Fechtner:

Gabi Fechtner/MLPD/15.10.20

An C

Hallo Herr T,

ich hoffe, es geht Ihrer Gesundheit gut - man muss ja bei den wieder rasant ansteigenden Covid-Zahlen wirklich aufpassen! Vielen Dank für Ihre Briefe vom 14.08.20 zum Interview im Rote Fahne-Magazin und vom 03.09.20, in dem Sie Bezug nehmen auf mein Interview in der „WELT“. Sie schicken in beiden Briefen wieder vielfältige Hinweise und interessante Quellen, mit denen wir uns gründlich befassen.

Ich hatte Ihnen bereits in einem Brief vom 17.01.2018 mitgeteilt, dass wir intensiv an „Biographischen Betrachtungen der MLPD zu Stalin“ arbeiten und dazu eine größere Arbeitsgruppe eingerichtet haben. Ihre Fragen fließen in diese Arbeit ein, wenn Sie einverstanden sind. Sie geben uns wichtige Hinweise darauf, was wir weiter untersuchen und welche Fragen dort behandelt werden müssen. Ich antworte Ihnen gerne zu Grundlinien Ihrer Fragen, würde aber ungerne die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe immer zwischendurch beauftragen, parallel umfassende Antworten und Untersuchungen zu machen, sondern dies für das Buch nutzen. Dazu kommt, dass wir uns über viele, auch neue Fragen, zunächst selbst gründlich beraten und vereinheitlichen müssen. Sicher ist es auch in Ihrem Interesse, dass dieses Buch vorankommt. Sie können uns dazu gerne weitere Hinweise, Quellen und Kritiken senden. Nach der Herausgabe der Biographischen Betrachtungen können wir auf dieser Grundlage weiter diskutieren. Was halten Sie davon?

Um den Erkenntnisfortschritt in unserem Briefwechsel schöpferischer zu gestalten, wäre es zugleich gut, wenn neue Briefe von Ihnen auch Positionierungen auf unsere bisherigen Antworten beinhalten (ich gehe davon aus, dass Sie diese bekommen haben - siehe unten). Bei allen wichtigen Hinweisen ist Ihre Methode immer noch, „Indizien“, Erscheinungen und Versatzstücke über (vermeintliche) Verbrechen Stalins herauszusuchen, ohne diese jeweils in den geschichtlichen Kontext einzuordnen. Sie berufen sich auf Marx – dann sollten wir auch so an die Geschichte herangehen, wie es Marx und Engels vom Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus fordern: daß alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme der Urzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, daß diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedes Mal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Wort der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären sind.“ (Engels, „Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ , MEW Bd. 19, S. 208)

Sie zählen stattdessen einfach Opfer und Todeszahlen auf, ohne jeden Zusammenhang zu den harten Klassenkämpfen. So kann man das nicht behandeln! Sie kritisieren einen Beschluss des Politbüros gegen die Kulaken – aber sicher wollen doch auch Sie sich nicht auf die Seite der Kulaken stellen, die für dramatische Hungersnöte und Verbrechen vor allem an der armen Landbevölkerung verantwortlich sind. Ich gebe Lenin Recht, der sagte, „Wenn das Volk hungert, wenn die Arbeitslosigkeit immer drohender wütet, ist jeder, der ein überschüssiges Pud Getreide versteckt, jeder, der den Staat eines Puds Brennstoff beraubt, der größte Verbrecher (...) Notwendig ist ein Massen,kreuzzug‘ der fortgeschrittenen Arbeiter nach jeder Stätte, wo Getreide und Brennstoffe gewonnen werden, nach jeder Stelle, wo sie antransportiert und verteilt werden, damit die Arbeitsenergie gesteigert, damit diese Energie verzehnfacht, damit den örtlichen Organen der Sowjetmacht bei der Rechnungsführung und Kontrolle geholfen, damit Spekulation, Bestechlichkeit und Schlamperei mit Waffengewalt ausgerottet werden.“ („Über die Hungersnot“, Lenin Werke Bd. 27, Berlin 1960, S. 391). Man macht es sich zu einfach, sich heute mit erhobenem Zeigefinger hinzustellen, die Opfer zu benennen, ohne darauf einzugehen, in welchen harten unerbittlichen Kämpfen die Sowjetunion damals angegriffen und bedroht wurde. Natürlich würden wir heute andere Methoden anwenden, aber auch die damaligen kann man nicht zeitlos aburteilen. Die Kampfformen sind in einer Zeit erbitterter Bürgerkriege und Überfälle, systematischer Sabotageakte und einer regelrechten Anschlagswelle gerade in den 1930er Jahren, einer bestimmten Verrohung durch den I. Weltkrieg und die krasse Armut und Not anders. In den meisten Ländern gab es damals die Todesstrafe – sie wird Stalin in Ihren Briefen als Verbrechen angelastet, was ist mit Churchill oder Roosevelt? Nach Ihrer Lesart auch Massenmörder?

Zu Ihrem Brief vom 3.9.20 zum Interview mit „Die WELT“: Sie schreiben, es sei neu, dass ich auch von Verbrechen im Namen des Sozialismus spreche, früher habe man bei der MLPD nur von „Fehlern“ in der Zeit Stalins gesprochen. Das ist nicht richtig. Seit Jahren steht im Parteiprogramm der MLPD: „Sie führt jedoch auch eine notwendige Kritik an Versäumnissen, Fehlern und Problemen bis hin zu Verbrechen, um daraus schöpferische Schlussfolgerungen zu ziehen.“ (Programm der MLPD, S. 72 - Fettierung G.F.).

Zu Ihren Fragen zur Zeit 1936-1938 in der Sowjetunion: In dem Buch Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ wurde von Willi Dickhut analysiert, dass 1937/38 der Bürokratismus drohende Formen annahm. Dieser Bürokratismus wurde von der Parteiführung mit zum Teil falschen Methoden bekämpft und damit letztlich auch unterschätzt. „Stalin führte wohl schonungslos den Kampf gegen die Bürokratie von oben, aber mit Hilfe desselben Apparats, gegen dessen Auswüchse er zu Felde zog. Denn selbst im Staatssicherheitsapparat hatte sich der Bürokratismus eingeschlichen. Es ist heute, aus historischer Sicht, zu erkennen, daß dieses Vorgehen ein Fehler Stalins war.“ (Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, S. 35). Wir untersuchen diese Phase für die oben erwähnten „Biografischen Betrachtungen ...“ derzeit besonders intensiv - bitte sehen Sie mir nach, dass ich nicht Untersuchungsergebnisse an Sie schreiben kann, bevor sie abgeschlossen sind und wir dies in der Partei diskutiert und vereinheitlicht haben. Zweifellos wurden in dieser Zeit auch viele unschuldige und aufrechte Kommunisten Opfer. Die Maßnahmen des Politbüros wurden 1938 beendet, nachdem bekannt geworden war, mit welcher Willkür Geheimdienste und kleinbürgerliche Bürokraten vorgegangen waren. Willi Dickhut schrieb bereits 1979: „Wenn aber dieselben Mittel, die gegen Konterrevolutionäre angebracht und notwendig sind, auch auf werktätige Menschen angewandt werden, die gewisse Widersprüche haben, die aber Widersprüche im Volk sind, dann ist das ein Verbrechen, dann müssen die zur Verantwortung gezogen werden, die solche Mittel gegen die werktätigen Menschen anwenden.“ (Briefwechsel zum Parteiaufbau, S. 224 f.) Es gab diese Verbrechen, aber dass Stalin das, was aus den „Kontingenten“ gemacht wurde, persönlich angewiesen oder gebilligt hätte, ist bis heute nicht nachgewiesen. Dass er dabei Fehler gemacht hat, auf die Sie auch berechtigt hinweisen, ist auch von unserer Seite unstrittig. Die konkreten Verantwortlichkeiten und Vorgänge sind mit der von Willi Dickhut geleisteten Grundlinie Gegenstand unserer Untersuchungen.

Sie werfen in Ihrem Brief vom 14.08.20 die Frage auf, ob Stalin wirklich ein Gegner des Antisemitismus war. Auch hier fehlt in Ihren Angaben jede Einordnung in die damaligen Kämpfe und Auseinandersetzungen. Dabei muss eingeordnet und unterschieden werden:

  1. Zwischen berechtigten jüdischen Interessen, die Stalin immer bestärkt hat, und zionistischen reaktionären Ansprüchen.
  2. Die Frage, ob jemand verfolgt wurde, weil er Jude ist oder im Zusammenhang zu tatsächlich zahllosen Versuchen der Sabotage, Zerstörung und Spaltung des sozialistischen Aufbaus.
  3. Die Einordnung in die (umstrittene) Auseinandersetzung zur jüdische Frage in der Sowjetunion zu dieser Zeit.

zu 1.) Lenin und Stalin gingen immer davon aus, dass die jüdische Frage nicht in erster Linie als religiöse Frage, sondern als nationale und soziale Frage betrachtet und gelöst werden muss. Sie unterschieden zwischen Judentum und Zionismus. Es war die Sowjetunion, die als erste den Staat Israel anerkannt hatte. Unter Stalin wurde die „Jüdische Autonome Oblast“ als autonome Verwaltungsregion innerhalb der Sowjetunion gegründet. Kalinin, als Vorsitzender des Allrussischen zentralen Exekutivkomitees der Sowjets, soll zu diesem Gebiet ausgeführt haben: „Birobidschan betrachten wir als einen jüdischen nationalen Staat“. Dort erblühte die jüdische Kultur in Verbindung mit der gesamten Sowjetkultur, wurde das Jiddische als Amtssprache praktiziert und gelehrt, wurden die nationalen Rechte des jüdischen Volkes geschützt usw.. Stalin positionierte sich zur Frage des Antisemitismus grundsätzlich auf eine Anfrage der jüdischen Telegrafenagentur aus Amerika im Jahr 1931 eindeutig: „Der Antisemitismus als extreme Form des Rassenchauvinismus ist der gefährlichste Überrest des Kannibalismus. Der Antisemitismus dient den Ausbeutern als Blitzableiter, der die Schläge der Werktätigen vom Kapitalismus ablenken soll. … Darum sind die Kommunisten als konsequente Internationalisten unversöhnliche und geschworene Feinde des Antisemitismus. In der UdSSR wird der Antisemitismus als eine der Sowjetordnung zutiefst feindliche Erscheinung vom Gesetz aufs strengste verfolgt.“ (Stalin Werke, Bd. 13, S.26) Allerdings wurden dann unter Stalin 1952 die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen. Das ging darauf zurück, dass zwischen 1947 und 1952 der US-Imperialismus seinen Haupteinfluss in Israel durchgesetzt, Israel sich in einen zionistischen Staat verwandelt hatte und immer mehr auch imperialistischen Anspruch bekam, während Stalin 1947 gerade den imperialistischen Einfluss in Palästina schwächen wollte. Er war gegen diesen imperialistischen Einfluss, so wie wir heute gegen den Imperialismus Israels ebenso wie gegen den der USA oder Chinas kämpfen, nicht gegen den Nationalstaat an sich oder gar das Judentum.

zu 2.) werden berechtigte Kritiken und Repressionen infrage gestellt, WEIL die Betreffenden Juden waren. Das ist die Logik, mit der heute im Bundestag und auch von Netanjahu argumentiert wird, wonach es keine Kritik an reaktionären Juden bzw. einer Regierung wie Netanjahus geben darf, weil das dann antisemitisch sei. Für uns gibt es keine Hinweise, dass Menschen wegen ihres Judentums in der Sowjetunion verfolgt wurden. Sie schreiben selbst, dass in den Prozessen den Angeklagten natürlich nicht offen vorgeworfen (wurde) Juden zu sein, sondern Spionage und Sabotage betrieben zu haben“. Dem muss man dann auch nachgehen, was die Zusammenhänge, Hintergründe usw. waren und nicht alles pauschalisierend und ohne geschichtlichen Zusammenhang als Antisemitismus bezeichnen.

Zu 3.) Es trifft nicht zu, dass es offizielle Linie der SU war, die jüdischen Opfer nicht zu würdigen. Das war die trotzkistische Linie! Nathan Weinstock, damals bekennender Trotzkist, schreibt selbst 1967 in „Das Ende Israels? Nahostkonflikt und Geschichte des Zionismus“ über den Streit darüber mit Gromyko, der ab 1946 Vertreter der Sowjetunion im Sicherheitsrat der UN war – und enger Verbündeter Stalins und Molotows: „Und er (Gromyko – G.F.) fügte hinzu, 'es wäre ungerecht, dieser Tatsache (dem Massenmord an Juden unter Hitler - GF) nicht Rechnung zu tragen und dem jüdischen Volk das Recht zu verweigern, eine solche Sehnsucht zu erfüllen.'“ (S. 216)

Auf weitere angesprochene Fragen gehen vorherige Briefe ein, so Dieter Klauth zu Ungarn, „Schauprozesse“ usw.

Sie schreiben, dass Sie zu vorangegangenen Briefen unsere Antworten nicht erhalten haben. Ich bin dem nachgegangen und meiner Information nach antwortete DK von der Fachredaktion Geschichte und Sozialismus bei der Roten Fahne auf Ihren Brief vom 26.3.20 zu den Prozessen in der CSSR, Bulgarien und Ungarn sowie zur Verfolgung von Westemigranten der KPD am 12.5.20. Ich schicke den Brief aber vorsichtshalber noch einmal mit. Sie hatten am 20.2.20 eine Kritik zu einem Artikel über Katyn geschrieben. Wir waren – wie sich jetzt herausstellt fälschlicherweise - davon ausgegangen, dass Sie die Antwort der Autorin des Artikels an einen anderen Kritiker ebenfalls erhalten hatten. Hier gab es offenbar ein Missverständnis. Auch diesen Brief gebe ich in den Anhang.

Weiter vermissen Sie eine Antwort auf einen Brief zum Potsdamer Abkommen. Von wann ist er? Nach unserer Kenntnis liegt er uns nicht vor – oder ist er schon älter? Bitte schicken Sie ihn uns zu.

Mit freundlichen Grüßen

Gabi Fechtner