Willi Dickhut
Kritik am Artikel über Lenins Genialität
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1974
Lieber Willi, 19. 4. 74
ich habe es versäumt, auf Deinen letzten Brief vom 26. 2. schnell zu antworten. Das liegt vor allem daran, daß wir in der Redaktion erst die ersten Schritte auf dem Weg zu einem planmäßigen Arbeitsstil gemacht haben. Unsere Redaktionsarbeit ist noch zu sehr darauf eingestellt, Artikel fertigzustellen, und noch nicht in der Lage, den großen Berg der Briefe und Korrespondenzen zu verarbeiten. Aber wir haben das Problem – auch noch ein Relikt aus dem Zirkelwesen – erkannt, und wir bemühen uns, es möglichst schnell zu lösen. Die Korrespondententagung im Mai soll ein erster Schritt dazu sein, den Kontakt mit den Genossen in den Ortsgruppen herzustellen.
Wir haben in der Redaktion und im Mitarbeiterstab Deine Analyse gelesen und sie in der Diskussion für richtig und für viel tiefgehender erkannt, als unsere vorherige Meinung über die allgemeine Krise des Kapitalismus war …
Viel Kritik kam zu dem Lenin-Artikel, vor allem von Studenten. Sie kritisieren vornehmlich, daß er zu hoch und phrasenhaft sei, verstehen aber den Kern des Artikels nicht, der gerade für Intellektuelle wichtig ist: daß Lenins Genialität gerade darin bestand, daß er auf die Massen vertraute, aus ihnen schöpfte und nicht auf Buchwissen und Dogmen vertraute. Auch von der intheoretisches-organ-revolutionaerer-weg China lebenden Lisa N. haben wir eine Kritik erhalten: »Nur ist man hier über den ›genialen‹ Führer Lenin gestolpert, und das besonders jetzt im Zuge der Bewegung zur Kritik an Lin Biao und Konfuzius. Wir haben einen ›bedeutenden‹ Führer daraus gemacht!«
Dein Besuch in Tübingen hat uns in der anderen Zelle weitergebracht. Bisher war die zentrale Arbeit in der Grundeinheit tabu. Deshalb bin ich auch nie auf den Gedanken gekommen, Briefe von Dir in der Grundeinheit vorzutragen. Ich hätte das für einen Verstoß gegen die Disziplin und die Regeln der Konspiration gehalten. Das war aber Konspiration an der falschen Stelle, in politisehen Fragen. Zudem müssen die Genossen in meiner Zelle meine Schwierigkeiten kennen, um mir helfen zu können.
Viele Grüße!
Karl
Lieber Karl! 24. 4. 74
Deinen Brief vom 19. 4. dankend erhalten. Du hast sicher in der »Peking Rundschau« 14 den kurzen Wirtschaftsbericht über die BRD gelesen. Die Redaktion hat einige Zahlen aus dem Zusammenhang genommen und falsche Schlußfolgerungen daraus gezogen. Ich hatte in meinem Brief vom 26. 2. davor gewarnt: »Wir sollen uns nicht von bürgerlichen Argumenten verblüffen lassen.« Die Redaktion der »Peking Rundschau« hat sich verblüffen lassen. Die Gesamtproduktion 1973 ist um 11,9 Prozent gestiegen. Alle großen Konzerne melden Umsatzsteigerungen von durchweg 15–20 Prozent. Wo keine Steigerung gemeldet wird, hat das bestimmte Ursachen …
Was den Lenin-Artikel betrifft, haben wohl einige Studenten sonderbare Ansichten. Daß er für sie »zu hoch« erscheint, liegt wohl daran, daß sie den Kern nicht verstehen oder ihn nicht verstehen wollen. Allerdings ist der Artikel in konzentrierter Form geschrieben, aber das liegt daran, daß der Umfang vorgeschrieben war. Wer ihn aufmerksam studiert, wird feststellen, daß in jedem Absatz eine wichtige Lehre steckt. Von diesen Lehren fühlen sich wohl einige kleinbürgerliche Intellektuelle getroffen, sie sträuben sich dagegen, weil sie die Lehren nicht annehmen wollen. Wenn aber jemand behauptet, der Artikel sei phrasenhaft, dann soll er es mir mal beweisen. Phrasenhaft heißt: hochtönende Worte ohne Inhalt. Ich möchte den mal sehen, der behauptet, der Artikel sei inhaltsleer. Gerade kleinbürgerliche Intellektuelle aus den ultralinken Gruppen haben bewiesen, was phrasenhaft ist.
Auch wenn einige chinesische Genossen um Lisa N. anderer Meinung sind: Stalin war ein »bedeutender« Führer, Lenin war ein »genialer« Führer. Die Oktoberrevolution war ein großes Risiko, die Situation wurde durch den Verrat von Sinowjew und Ka-menew, die den Aufstandsplan an die Menschewiken verrieten, bedrohlich. Nur ein Abenteurer oder ein Genie konnte unter diesen Umständen den Befehl zum Aufstand geben, ein Abenteurer, weil er das Kräfteverhältnis nicht richtig einschätzen konnte und trotzdem zum Aufstand aufruft, der dann scheitern muß. Aber Lenins Genie lag darin, daß er mit Sicherheit die verwickelte Lage durchschaute, die Kräfte des Feindes und die eigenen genau einschätzte, den Aufstandsplan in allen Einzelheiten erarbeitete und den unerschütterlichen Glauben an die revolutionäre Kraft der Massen hatte, den gerade Sinowjew und Kamenew nicht hatten. Diese kleinbürgerlichen Intellektuellen waren zaghaft, sie glaubten weder an die Massen noch an den Sieg, darum liefen sie in ihrem Kleinmut zu den Menschewisten über.
Wir können die Bedeutung Lenins nicht hoch genug einschätzen. Das müssen wir gerade jetzt im Kampf gegen die Revisionisten beachten. Übrigens: Was ist ein Genie? Höchster Grad schöpferischer Begabung – das kann man doch wohl von Lenin sagen. Wer das Gegenteil behauptet, kennt Lenin nicht und unterschätzt die gewaltige Bedeutung des Leninismus für den Kampf der Arbeiterklasse …
Herzlichen Gruß
Willi