Willi Dickhut

Willi Dickhut

»Kritik« an Friedrich Engels

Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1977

Von RW-Redaktion
»Kritik« an Friedrich Engels

Lieber Willi! 9. 1. 77

Ich habe mich seit kurzem in Marx/Engels Ausgewählten Schriften, Band II, festgelesen. Beim Studium von »Die Entwicklung des Sozialismus …« ist mir verschiedenes unklar geblieben. Zunächst im Vorwort (gegen Ende) Seite 101 schreibt Engels, die deutsche Arbeiterbewegung stünde »sogar innerhalb meßbarer Entfernung vom Triumph«. Im nachhinein hat sich diese engels-sche Prognose ja nicht bestätigt. Daher stellt sich mir folgende Frage: Wie kann es einem Mitentwickler der dialektisch-materialistischen Denkweise unterlaufen, die Entwicklung auf einmal so statisch zu sehen? Engels wußte doch, daß sich die historische Entwicklung nicht geradlinig, sondern in Sprüngen, einem stetigen »Auf und Ab« bewegt, daß eine für den Klassenkampf günstige Situation sich unter gewissen Umständen in eine ungünstige verwandeln kann!

Das ist das eine. Die andere, mir weitaus größer erscheinende Ungereimtheit befindet sich am Anfang des Texts, Seite 105. Im letzten Absatz, beginnend mit »Allen dreien ist gemeinsam …« wird das Werk von Karl Marx (der dürfte wohl gemeint sein) als ein »reiner Glücksfall« hingestellt, der, wenn er »500 Jahre früher« geboren wäre, »der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart« hätte.

Diese Aussage steht doch in krassem Widerspruch zu allen anderen engelsschen Erkenntnissen. Marx und seine Ideen sind doch ein Produkt der historischen Gegebenheiten. Und hätte Marx 500 Jahre früher gelebt, hätte er nie auf die Theorie von der Diktatur des Proletariats kommen können, eben weil es noch kein Proletariat gab. Ich habe das mit meinen Genossen in der Zelle diskutiert, die waren aber ebenfalls ratlos. Deshalb wende ich mich an Dich und bin gespannt, Deine Meinung dazu hoffentlich möglichst bald erfahren zu dürfen. Vielen Dank und

ein frohes, gesundes neues Jahr wünscht Dir
Heiko



Lieber Heiko! 6. 3. 77

Obwohl ich mitten in der Arbeit am Revolutionären Weg 16–18 stehe, will ich doch Deinen Brief vom 9. 1. 77 beantworten, weil man Unklarheiten nicht im Raum stehenlassen soll. An irgendeiner Stelle eines Revolutionären Wegs habe ich darauf hingewiesen, daß man bei den Klassikern des Proletariats unterscheiden muß, was prinzipiell für die ganze Periode des Kapitalismus gilt und was zeitgebunden ist, das heißt, zu Lebenszeiten der Klassiker in der Beurteilung der damaligen Situation richtig war, aber heute nicht oder nur bedingt übertragen werden kann. Wer das nicht berücksichtigt, macht unweigerlich Fehler, weil er nicht dialektisch, sondern metaphysisch herangeht.

Die von Dir zitierte Stelle »… innerhalb meßbarer Entfernung vom Triumph« war damals durchaus möglich. Engels geht in einem Artikel »Der Sozialismus in Deutschland«, 1892 geschrieben (also noch später als das obige Zitat), noch weiter. Er schreibt:

»Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, die Partei, die wie die ansteigende Flut alle Dämme überbraust, die sich über Stadt und Land ergießt, bis in die reaktionärsten Ackerbaudistrikte, diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.«

Dann folgen Zahlen über die sozialdemokratischen Wahlstimmen, die diese Situation kennzeichnen, und Engels stellt der SPD die bürgerliche Seite gegenüber: »Dieser kompakten und stets anschwellenden Masse von Sozialdemokraten gegenüber sehen wir nur gespaltene bürgerliche Parteien.«

Damals begann erst der Übergang des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus, es herrschte noch die parlamentarische Demokratie (heute gibt es keinen echten Parlamentarismus mehr). Es bestand durchaus die Möglichkeit, die Mehrheit im Parlament zu erobern, und doch machte sich Engels keinerlei Illusionen. Dazu lest den II. Abschnitt im Revolutionären Weg 2, wo die Antwort eingehend behandelt wird. Hättet Ihr bei der Diskussion den Revolutionären Weg 2 zugrunde gelegt, müßte Euch die Frage klar sein.

Nun zur zweiten Frage. Du zitierst hier aus dem Zusammenhang, es geht hier Engels um die Darlegung der »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, und er zeigt die Utopisten, die alles aus der Vernunft erklären wollten. So heißt es im zweiten Absatz der ersten Seite:

»Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt …«

Dazu sagt Engels: »Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie … So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigene Epoche gesetzt hatte.«

Engels geht dann in dem von Euch zitierten Absatz »Allen dreien ist gemeinsam …« auf die vorher genannten drei großen Utopisten ein, und das Nachfolgende bezieht sich meiner Meinung nach auf deren Auffassung. Es ist allerdings von Engels nicht eindeutig genug ausgedrückt. Halten wir aber den ersten Absatz dagegen, dann wird es klar:

»Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, anderseits der in der Produktion herrschenden Anarchie …

Wie jede neue Theorie, mußte er (der moderne Sozialismus) zunächst anknüpfen an das vorgefundene Gedankenmaterial, so sehr auch seine Wurzel in den materiellen ökonomischen Tatsachen lag.«

Und noch ein Hinweis von Lenin in »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus«:

»… die ganze Genialität Marx' besteht gerade darin, daß er auf jene Fragen Antwort gab, die von den fortgeschrittensten Denkern der Menschheit bereits gestellt worden waren. Seine Lehre entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehre der hervorragenden Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus.«

Die Lehre Marx' »ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in der Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat«.

Zum Schluß noch eine ernste Mahnung: Wir dürfen niemals oberflächlich an das Studium der Theorie des Marxismus-Leninismus herangehen, sondern müssen den ganzen Komplex einer Schrift, eines Artikels, einer Rede gründlich studieren und von verschiedenen Seiten her beleuchten. Wenn Ihr weiter untersucht hättet, was Engels in »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« geschrieben hat, wäret Ihr auf Seite 121 der Sache näher gekommen. Engels schreibt:

»Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären.

Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfes, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandenen Klassen, das Proletariat und der Bourgeoisie …«

So, und jetzt gehen wir noch mal zurück zu dem bestimmten Absatz, den Ihr nicht verstanden habt. Er beginnt: »Allen dreien ist gemeinsam …« und dann behandelt der Absatz das, was allen dreien (Saint-Simon, Fourier und Owen) gemeinsam ist, und das ist eben das, was Ihr als Auffassung Engels' angenommen habt. Auf diesem Wege könnten verhängnisvolle Irrtümer entstehen, wenn man damit an die Öffentlichkeit geht. Das wäre ein begehrenswertes Fressen für die Revisionisten. Könnt Ihr Euch vorstellen, was wäre, wenn solche Brocken im Revolutionären Weg ständen?

Mich würde nun doch sehr interessieren, wie Eure Diskussion weitergeht. Teilt mir bitte das Ergebnis mit.

Dir und den anderen Genossen die besten Kampfesgrüße
Willi