Willi Dickhut
Kritik der Ortsgruppe Saarbrücken am Revolutionären Weg 6
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1972
Lieber Genosse Willi! 30. 10. 72
In ihrem letzten Gruppenbericht schreiben die Genossen aus Saarbrücken folgendes:
»Im Revolutionären Weg 6 halten wir die Darstellung der Losungen in den verschiedenen Etappen des Klassenkampfs für falsch. Die Aussage: In der Etappe ohne revolutionäre Situation ›müssen Teillosungen und Teilforderungen aufgestellt werden‹ (S. 57), ist allein nicht richtig. Nach Stalin müssen wir Aktions-, Agitations- und Propagandalosungen unterscheiden. Es ist falsch, von Aktionslosungen nur beim unmittelbaren Machtkampf zu reden, wie es im Revolutionären Weg auf Seite 58 getan wird. Richtig wäre etwa folgende Darstellung: Die Losungen ›Für den Sozialismus‹ und ›Für die Diktatur des Proletariats‹ sind in der gegenwärtigen Etappe Propagandalosungen. In einer revolutionären Situation werden sie (in eventuell abgewandelter Form) zu Aktionslosungen. Aktionslosungen in der heutigen Etappe sind Losungen, die Teilforderungen beinhalten. Aber auch schon heute müssen wir weitergehende Agitations- und Propagandalosungen aufstellen. Die Darstellung im Revolutionären Weg 6 klingt so, als könnten wir heute nur Teilforderungen aufstellen und nicht auch gleichzeitig die Notwendigkeit der Revolution und der Diktatur des Proletariats propagieren.«
Soweit die Kritik aus dem Gruppenbericht. Schick doch bitte Deine Antwort an die Organisationsabteilung. Wir werden dann sofort die Beantwortung weiterleiten. Kurze Charakterisierung der Ortsgruppe: Stützpunkt, zwei Genossen, beide studieren noch; der eine Genosse ist seit der Gründung unserer Organisation dabei, er ist ruhig und besonnen, aktiv; die Ortsgruppe konnte sich bisher trotz großer Aktivitäten, vor allem unter den Saar-Kumpeln, nicht erweitern; es fehlt das proletarische Element.
Rot Front!
F.
Liebe Genossen! 9. 11. 72
Es wurde mir von der Organisationsabteilung der Zentralen Leitung die Kritik aus Eurem Bericht zur Stellungnahme zugeleitet. Ich nehme an, daß Ihr den Bericht bereits vor dem Erscheinen der Roten Fahne 10 mit der Beilage gegen die ultralinke Linie des »Roten Morgen« geschrieben hattet.
Die Schriftenreihe Revolutionärer Weg soll einen gewissen Umfang nicht überschreiten, das heißt keinen Buchumfang haben. Das bedingt eine oft allzu knappe Fassung in einzelnen Punkten. Da aber alle Themen im Zusammenhang stehen, wird in den einzelnen Nummern des Revolutionären Wegs jeweils zu einem bestimmten Problem konkreter Stellung genommen. Der Revolutionäre Weg 6 soll die dialektische Methode kennzeichnen, wobei die Objekte der Anwendung dieser Methode jeweils nur kurz gestreift wurden, um vom Kern nicht abzuschweifen. Unter diesem Gesichtspunkt wurden die Etappen des Klassenkampfs nur grob skizziert, ohne die Fragen der Strategie und Taktik jeder Etappe ausführlich zu behandeln, weil das Thema Strategie und Taktik später zusammenfassend in einer Nummer behandelt werden soll. Trotzdem hätte zu den Etappen etwas mehr gesagt werden sollen, weil das im ideologischen Kampf gegen die Ultralinken, die eine Etappe ohne revolutionäre Situation ablehnen beziehungsweise ignorieren (»Haupttendenz in Westdeutschland ist Revolution«), wichtig war. Das war aber während der Bearbeitung des Themas vor fast zwei Jahren nicht vorauszusehen. Darum sollte die Beilage in der Rote Fahne 10 eine Ergänzung darstellen.
Unser Endziel beziehungsweise Fernziel ist die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse und der Aufbau des Sozialismus. Dieses Ziel muß ständig und zu jeder Zeit beziehungsweise in jeder Etappe propagiert werden. Die Erreichung dieses Ziels ist ein Prozeß, der nur in Etappen vor sich gehen kann – man kann keine Etappe überspringen. Eine Revolution kommt nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Dieser Prozeß wird auch durch die jeder Etappe entsprechenden Hauptlosungen gekennzeichnet: Teillosung – Übergangslosung – Aktionslosung. Unter Aktionslosung ist natürlich die revolutionäre Aktion, der Kampf um die Macht, zu verstehen und nicht taktische Aktionen zur Durchsetzung bestimmter Teilforderungen, wie sie in unserem Aktionsprogramm aufgestellt wurden. Agitationslosungen stehen immer in Verbindung mit den Hauptlosungen, nur jeweils mit einem anderen Inhalt, das heißt entsprechend der Strategie und Taktik jeder Etappe. Die Agitation des »Roten Morgen« zum Beispiel stützt sich auf die Annahme einer revolutionären Situation in Westdeutschland, die jetzt nicht vorhanden ist; darum ist sie nicht nur falsch, sondern auch schädlich, weil sie von den breiten Massen nicht verstanden und darum nicht befolgt wird. Ich verweise auf das Leninzitat unten links auf der zweiten Seite der Beilage. Wir dürfen darum nicht, wie Ihr meint, »weitergehende Agitationslosungen aufstellen«; dafür sind heute die Propagandalosungen da, die aber nicht abstrakt herausgestellt werden sollen, vielmehr sollen wir sie geschickt mit dem täglichen Kampf verbinden.
In der ersten Etappe des Klassenkampfs befaßt sich die Agitation hauptsächlich mit der Mobilisierung der Massen und der Vorbereitung von ökonomischen und politischen Kämpfen. Die Agitationslosungen fallen noch nicht unmittelbar mit den Propagandalosungen zusammen. Erst beim Übergang zur zweiten und besonders zur dritten Etappe werden die Propagandalosungen mehr und mehr zu unmittelbaren Agitationslosungen mit der Ausrichtung auf den Übergang zur und die Durchführung der revolutionären Aktion. Agitations- und Propagandalosungen verbinden sich in Aktionslosungen. Man darf Agitationslosungen zum Beispiel der dritten Etappe nicht auf die erste Etappe übertragen – das wäre Linksopportunismus. Man darf sich in einer revolutionären Situation auch nicht auf Agitationslosungen beschränken, die für die erste Etappe angebracht sind – das wäre Rechtsopportunismus.
Agitationslosungen müssen der jeweiligen Etappe angepaßt werden, dagegen sind Propagandalosungen gleichbleibend, denn sie sind auf das Ziel beschränkt. Agitationslosungen finden ihren Niederschlag in der ersten Etappe in Teilforderungen, in der zweiten Etappe in Übergangsforderungen und in der dritten Etappe in Forderungen, die mit dem bewaffneten Kampf verbunden sind. All das sind Fragen, die später einmal zusammengefaßt unter dem Titel »Strategie und Taktik im Klassenkampf« ausführlicher behandelt werden sollen.
Eure Kritik ist berechtigt, was die allzu kurze Behandlung der drei Etappen des Klassenkampfs im Revolutionären Weg 6 anbelangt. Die Beilage in der Roten Fahne 10 hat diesen Mangel zum Teil behoben. Ausführlicher muß das Problem später behandelt werden. Einige Punkte Eurer Kritik treffen nicht konkret zu, deshalb habe ich oben versucht, sie kurz richtigzustellen. Ich hoffe, daß es genügt.
Rot Front!
Willi